Der Geist der Freiheit: Ein queeres Jahrhundertleben, das erzählt werden wollte - Nachruf auf Harm-Peter Dietrich (1936–2025)

Am 11. Juli 2025 verstarb unser Autor Harm-Peter Dietrich im Alter von 89 Jahren. Mit ihm verliert der Vergangenheitsverlag nicht nur einen Autor, sondern einen außergewöhnlichen Erzähler, einen kritischen Chronisten und einen Menschen, dessen Leben selbst zur Geschichte wurde. Seine Autobiografie „Danke, Gustav! Mein schwules Jahrhundert“ ist weit mehr als eine Lebensrückschau – sie ist ein mutiges, sensibles Zeitzeugnis eines Jahrhunderts, das geprägt war von Nationalismen, Krieg, von Ausgrenzungen, Diskriminierungen, vor allem auch Homosexueller, es war aber auch ein Jahrhundert von Befreiung und Emanzipation – letzteres war das, was Harm-Peter Dietrich interessierte.
Dietrich wurde 1936 geboren und wuchs als Arztsohn in einer Kleinstadt nahe Köln auf. Seine Kindheit war geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, von Bombennächten, Flucht, Verlust. Schon früh ahnte er, „anders“ zu sein. Dass schwul zu sein in der Nachkriegsgesellschaft ein Stigma bedeutete, hat ihn nicht gebrochen – es machte ihn zu dem, der er wurde: zu einem feinfühligen, scharfsinnigen Beobachter seiner Zeit und zu einem Mann, der es wagte, sich selbst zu erzählen. Es ist dies die beeindruckendste Lehre, die wir aus seinem Buch gezogen haben: Er hatte die Kraft, ein Leben zu führen und zu erzählen, das er selbstbewusst gestaltete und vertrat. Keine Opfererzählung, kein Lamentieren. Stattdessen: Man konnte selbst Regie und das „richtige“ Leben führen.
Sein autobiografisches Werk entstand spät – doch mit umso größerer Klarheit. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Harm-Peter Dietrich mit großer Energie (und Unterstützung durch Franziska Heidemann und Malte Heidemann) an der Vollendung seines Buches. Diese Zusammenarbeit war nicht nur redaktioneller Natur – sie war auch ein Prozess des Erinnerns, des Sortierens, des bewussten Festhaltens. Für Dietrich war klar: Dieses Buch sollte bleiben, wenn er selbst geht. Es war sein Vermächtnis – nicht nur für die queere Community, sondern für alle, die sich mit deutscher Geschichte, mit Lebensmut und mit der Kraft des Erzählens auseinandersetzen wollen, um zu verhindern, was wir schon einmal hatten: Als Schwule, Lesben, Queers verfolgt zu werden.
„Danke, Gustav!“ ist eine Lebensgeschichte im besten Sinne – nicht heroisch, sondern ein realistisches schwules Manifest, mit Brüchen, Zweifeln, Glück und Schmerz, aber eben dieser grundlegend positiven Botschaft, selbst gestalten zu können, wie immer die Umstände auch sind. Es erzählt von der Kindheit im Bombenkrieg, vom Coming-out in Zeiten, als der §175 schwule Männer noch bedrohte. Und es erzählt vom Staunen, vom Reisen, vom Lieben, vom Altwerden als schwuler Mann.
Der Titel seines Buches verweist auf Bundespräsident Gustav Heinemann, der mit der Reform des §175 einen entscheidenden Beitrag zur Entkriminalisierung homosexueller Männer in Deutschland leistete. Für Harm-Peter Dietrich war das mehr als ein politischer Akt – es war eine späte Form der Anerkennung. Seine Geschichte wäre ohne diesen Wendepunkt nicht denkbar. Deshalb sollte der Buchtitel dies honorieren.
Dietrich war ein Mensch, der bis zuletzt leidenschaftlich zuhörte, nachdachte, sich einmischte, mit feinem Humor, mit spitzbübischer Selbstironie. Jedes Treffen mit ihm über die letzten zwei Jahre war eine „gute Zeit“, und wir wollten uns in den letzten Wochen noch unbedingt treffen. Als Arzt wusste er sehr genau, dass sein Tod kommen würde. Er war da vollkommen unprätentiös. Nun war es soweit. Danke Harm-Peter, dass wir dich kennenlernen und deine wunderbare Biografie als Buch in die Welt tragen konnten. Dein Buch bleibt ein leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit, Respekt und Selbstbestimmung. Es atmet den Geist liberaler Gesellschaften, wie wir ihn hochhalten wollen – jenen Geist, der die Würde jedes Einzelnen schützt und das Recht auf Anderssein verteidigt. In einer Zeit, in der autoritäres Denken, Queerfeindlichkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung wieder lauter werden, ist Harm-Peter Dietrichs Lebensgeschichte ein leuchtendes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, offene Gesellschaften nicht nur historisch zu verteidigen, sondern auch im Hier und Jetzt lebendig zu halten. Sein Buch ist eine Ermutigung, sich zu zeigen – und eine Erinnerung daran, dass Freiheit niemals selbstverständlich ist.
Vergangenheitsverlag, Juli 2025
Mehr zur Autobiografie von Harm-Peter Dietrich: https://vergangenheitsverlag.de/shop/Danke--Gustav-Mein-schwules-Jahrhundert--Ein-Buch-von-Harm-Peter-Dietrich-197.htm
Foto: Heinz-Ernst Schuster
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