Nachruf auf Hinrich Lühmann („Rachulle“)
Am 11. November 2024 ist unser Autor Dr. Hinrich Lühmann nach kurzer schwerer Krankheit verstorben, heute wurde er in Berlin-Frohnau beigesetzt. Fast anderthalb Jahre haben wir mit ihm intensiv an seinem Debütroman „Rachulle“ gearbeitet und nach der Herausgabe Anfang 2024 zahlreiche Lesungen gehabt. Allein die Premiere in der Humboldt-Bibliothek Reinickendorf war mit über 300 Besuchern die wohl meist besuchte Veranstaltung, die wir jemals erlebt haben. Gefühlt war halb Reinickendorf anwesend, dem Bezirk, in dem Hinrich Lühmann 1944 geboren worden war und am Humboldt-Gymnasium sein Abitur gemacht hatte. In den 60ern studierte er Germanistik, Geschichte und Philosophie in Berlin und Tübingen, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin, 1974 promovierte er und schlug die Schullaufbahn ein. Von 1991 bis 2008 leitete er als Direktor das Humboldt-Gymnasium in Tegel, eh er von 1999 bis 2011 Bürgerdeputierter im Schullausschuss des Bezirks, dann ab 2011 bis 2018 als parteiloser Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung wirkte und Spuren hinterließ.
Bei seiner Buchpremiere kamen zahlreiche ehemalige Schülerinnen und Schüler, die erzählten, wie sehr Lühmann ein „anderer“ Lehrer gewesen sei und die Schulzeit menschlich bereichert habe. Offensichtlich war er keiner der typischen „Pauker“. Er war einer, der „breit“ dachte, der neben seiner schulischen Betätigung eine psychoanalytische Praxis betrieb, später Bildungsberater wurde und eben schrieb.
Sein „Erstlingswerk“ war kein Debütroman. „Rachulle“, die Geschichte seiner Familie, insbesondere seines Vaters, eines glühenden Patrioten und NS-Kämpfers, den Lühmann in seinem Buch zu entschlüsseln suchte, ist eine dichte, lebenserfahrene Schilderung eines genau beobachtenden, zuhörenden, abwägenden, ausgeglichenen, milden Mannes, dem man zuhörte und dabei immer die Komplexität und Vielgestaltigkeit des Lebens vor sich sah, die keine schnellen Urteile, schon gar keine ideologisch vebrämten erlaubten. Sein Roman ist das reife Werk eines weitblickenden und verstehenden Denkers, der ohne Dünkel die Dynamiken einer deutschen Familie erklärte und schaffte, verstehen zu lassen, wieso die Hauptfigur seines Romans sich für den Nationalsozialismus begeistern konnte, eine der zentralen Fragen der deutschen Geschichte. Das zu erklären gelang Hinrich Lühmann ohne erhobenen Zeigefinger, ohne lehrerhafter Besserwisserei eines Bildungsbürgers, der er war, vielmehr spricht er zu seinen Lesern als ein auch mit fast 80 jung wirkender Mensch, der Bildung aus Neugier und einem Wissenwollen schöpfte und seinen Romanfiguren mit dieser Haltung fast höflich nahekommt.
Aus der Erzählung heraus schälte er die Charakteristik einer Zeit und eines Menschen, Rachulle, der auch durch die Umstände zum Kämpfer gemacht wurde und den seine Begeisterung zu einem fehlgeleiteten „Helden“ werden ließ. Ein zentrales Motiv des Romans ist, wie sehr Ideologien extremes Denken entstehen lassen, das in Gewalt und Krieg endet. Lühmann griff damit die große deutsche Erzählung des 20. Jahrhunderts auf, beschrieb den Weg zum Nationalsozialismus und wie dieser sich familiengeschichtlich in den kleinsten Einheiten der Gesellschaft einnistete und schließlich brutal auswirkte. Mit toxischer Männlichkeit, um einen modernen Begriff zu verwenden, hatte das nicht nur zu tun. Der Habitus des „deutschen Helden“ ist in Lühmanns Roman auch Produkt weiblicher Erziehung und Vergötterung der Söhne, die schon früh zu kleinen Helden gemacht wurden.
Lühmann lieferte mit „Rachulle“ einen aufklärenden Berliner Bildungsroman, gleichzeitig zeichnet das Buch die feinen Strukturen deutscher Bildungsbürger und der Geschlechterverhältnisse in den Familien nach, eingebettet in die Berliner und die deutsche Geschichte.
Das Buch ist in Sprache und Botschaft ein echter Glücksfall für einen Verlag gewesen, das in den lokalen und überregionalen Medien Beachtung fand. Noch im Sommer planten wir weitere Lesungen, wollten das Buch in die sozialen Medien und Lühmann auf TikTok bringen, weil er so große Lust hatte, mit Lernenden im weitesten Sinne und auf unkonventionellen Kanälen in Austausch zu kommen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. „Rachulle“ bleibt somit für sich alleine stehen, ohne weitere Erklärung, ohne die Stimme seines Autors, und doch ist es ein Buch, das weiter wirken wird und uns eine Ethik des guten Miteinanders lehrt. Mit Lühmann ist ein Autor und Lehrer im besten Sinne gegangen.
https://vergangenheitsverlag.de/shop/Rachulle-Roman--Ein-Buch-von-Hinrich-Luehmann-187.htm
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