Thomas Flichy de la Neuville im Interview
Die blinde Gewalt der Anschläge in Paris - und ein großer politischer Irrtum der islamistischen Terroristen
Die blinde Gewalt der Anschläge in Paris - und ein großer politischer Irrtum der islamistischen Terroristen
Die jüngeren, auf Einsatzschauplätzen im Ausland scharf gemachten Islamisten schlagen jetzt wahllos zu und sind besser ausgerüstet. Diese noch ungezügeltere Gewalt – die zum Teil durch die Gebietsverluste des Islamischen Staates (IS) im Nahen Osten zu erklären ist – stellt einen erstklassigen politischen Irrtum dar: Damit haben es die Islamisten zum ersten Mal geschafft, das ganze französische Volk gegen sich aufzubringen. Wir sprachen mit unserem Autor Thomas Flichy de La Neuville, Autor der aktuellen Studie Islamischer Staat. Anatomie des Neuen Kalifats.
Herr Flichy de la Neuville, was ist das Bemerkenswerte an den Attentätern von Paris?
Die Islamisten vom Januar haben mit den Islamisten vom November eines gemein: Sie machten sich zu Botschaftern eines subversiven, durch und durch rationalen politischen und religiösen Programms, das zum Ziel hat, die Öffentlichkeit durch den Angriff auf Freizeit-Orte zu terrorisieren. Es wäre eine grundlegende Fehldeutung, in ihrem Zusammenhang von Wahnsinn oder irrationalem Fanatismus zu sprechen. Denn diese Islamisten rechtfertigen ihre Aktionen gewissenhaft mit religiösen Beweggründen. Inzwischen haben sich die Beweggründe ihrer Aktion jedoch weiterentwickelt: Die Anschläge von Januar und November waren zwar die Antwort auf die französischen Militäreinsätze, allerdings hat der „sakrale“ Beweggrund eine andere Färbung angenommen: Nicht mehr nur die Mohammed-Karikaturen stellen ein Sakrileg dar, jetzt gilt auch die Lebensweise der westlichen Gesellschaft als „niederträchtig“ und „pervers“. Außerdem sind die Dschihadisten jünger geworden: Ihr Durchschnittsalter beträgt jetzt 26 Jahre. Anders als die Attentäter vom Januar, die sich im Gefängnis radikalisierten, hat die neue Islamisten-Generation in Syrien gekämpft und beschlossen, den Kampf auf heimatlichem Boden weiterzuführen. Die Kontakte zum belgischen Terrornetz sind ihre einzige Verbindung untereinander.
Wieso konnte das jüngste Attentat nicht verhindert werden?
Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Anschlägen in Paris: Die Nachrichtendienste haben die Terroraktionen in beiden Fällen weder aufgespürt noch vorhergesehen. Die Sicherheitskräfte ihrerseits waren nicht imstande, die Terroristen an der Ausführung ihrer Taten zu hindern, obwohl die Ziele bewacht waren (die Redaktion von Charlie Hebdo durch Leibwächter und das Stade de France durch einen Sicherheitsdienst). Als Polizei, BAC (Brigade zur Kriminalitätsbekämpfung) und Gendarmerie sich im Januar den Kouachi-Brüdern und jetzt den Terroristen in der Konzerthalle Bataclan gegenübersahen, waren sie mit ihrer Ausrüstung der Feuerkraft der Dschihadisten hoffnungslos unterlegen, was sie auch mit ihrem mutigen Einsatz nicht wettmachen konnten. Immerhin waren ihre Reaktionen prompt und erfolgreich, wie die Halsverletzung belegt, die einer der Kouachi-Brüder während des Schusswechsels mit der Gendarmerie erlitt, oder auch der Einsatz eines BAC-Polizisten im Bataclan, der einen Terroristen niederstreckte. Doch die Terroristen konnten erst gestellt bzw. „neutralisiert“ werden, als die Spezialeinheiten RAIDund BRI intervenierten.
Sind die Zeiten, in denen die Opfer präzise ausgewählt wurden, vorbei?
Die Zahl der Opfer der Anschläge vom November hat die bisherige Schwelle weit überschritten. Im Januar zählte man 17 Tote und 11 Verletzte, die vorläufige Bilanz im November lautet hingegen: 129 Tote und 352 Verletzte. Ursache dafür ist eine neue operative Vorgehensweise: Die Zielpersonen werden nicht mehr präzise ausgewählt. Statt Target Killing wie im Falle des Charlie Hebdo-Chefredakteurs „Charb“ – er stand auf Platz 6 der Liste mit den zum Abschuss freigegebenen Personen der AQAP (al-Qaida auf der arabischen Halbinsel) – wird nun wahllos abgeschlachtet. Im Januar 2015 töteten die Kouachi-Brüder, die nach eigenen Angaben im Auftrag von al-Qaida handelten, ihre Opfer mit jeweils einem Schuss, jetzt wurden Hunderte von Patronenhülsen an den Tatorten gefunden. Wir haben es mit einem „Hyper Cacher hoch zehn“ zu tun, um es mit den Worten eines Beamten der Spezialkräfte zu sagen („Hyper Cacher“ heißt der Pariser Supermarkt, in dem im Januar 2015 eine Geiselnahme stattfand)
Wird es zu einer noch radikaleren Gewalt in Europa und auch in Deutschland kommen?
Der Terrorangriff in Paris ist der erste Kamikaze-Angriff auf französischem Boden. Wobei die Technik der Selbstmordattentate keine islamische Erfindung ist, sondern die Abwandlung einer japanischen Technik: Der erste Selbstmordanschlag wurde am 30. Mai 1972 durch die Japanische Rote Armee am internationalen Flughafen von Tel Aviv verübt. In puncto Bewaffnung beschränkt sich die Ähnlichkeit zwischen den Anschlägen von Januar und November auf den Einsatz von Sturmgewehren mit Kaliber 7,62 und 7,66. Während Amedy Coulibaly, der im Auftrag des IS zu handeln vorgab, im Januar über Sprengstoff verfügte, diesen aber nicht zum Einsatz brachte, verwendeten die Terroristen dieses Mal TATP (Acetonperoxyd), dem sie Schrauben beimengten, um die Schrapnellwirkung zu erhöhen. In beiden Fällen handelten die Attentäter kaltblütig, im zweiten Fall gingen sie jedoch wesentlich professioneller vor: Die drei Gruppen handelten koordiniert nach einem auf die Minute genau geplanten Aktionsplan und mit unterschiedlichen Methoden: Selbstmordattentate am Stadion, Kugelhagel von einem Fahrzeug aus auf Restaurants, regelrechte Exekutionen und Geiselnahmen in einer Konzerthalle. Das Ende der Terroristen ist dagegen in beiden Fällen gleich, da sie alle auf den Märtyrertod aus waren. Im Januar starteten die Kouachi-Brüder einen letzten Angriff auf die Einsatzkräfte in der Druckerei Dammartin statt wie ursprünglich geplant in einem Wald. Im November zündeten die Terroristen ihre Sprengstoffgürtel in einem von ihnen selbst bestimmten Augenblick am Rande des Stadions und in einem Café. Sowohl im Hyper-Cacher-Supermarkt als auch im Bataclan wurden die Attentäter nach der Evakuierung der Geiseln beim Zugriff durch die Sicherheitskräfte „neutralisiert“: der um sich schießende Coulibaly im koscheren Supermarkt ebenso wie die Terroristen in der Konzerthalle, wobei einer von ihnen erschossen wurde und die anderen daraufhin beschlossen, ihre Sprengsätze zu zünden.
Thomas Flichy de la Neuville ist Professor an der Eliteuniversität l’Ecole Spéciale Militaire de Saint-Cyr, der Offiziersschule des französischen Heeres und Autor des Buches Der islamische Staat. Anatomie des Neuen Kalifats, erschienen im Vergangenheitsverlag, Berlin.
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